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Arbeit am Mythos

Variationen zu Homers Ilias

Homers Ilias: Ein Stoff aus dem alten Griechenland von lediglich akademischem Interesse? Homers Ilias: Ein Kosmos aus Menschen, Heroen und Göttern, der Totenreich, Erde und Himmel ineinander verspannt, ein Kosmos, in dem mitunter sogar Pferde und Flüsse sprechen und die Götter ihre Eigeninteressen verfolgen, intrigieren, polemisieren, Partei ergreifen, Einhalt gebieten, kurz: auf ihre allzu menschlichen Züge hin demaskiert werden. Was hätte uns aufgeklärten Zeitgenossen diese Welt der Mythen noch zu sagen?

     Dass das Epos vom trojanischen Krieg unvermindert brisante Szenen der Menschheitsgeschichte verhandelt, ist unbestritten. Unbestritten auch, dass der Kampf um Troja als Menetekel für jede Art kriegerischer Auseinandersetzung stehen kann. Gegen das rasante Verblassen von Erinnerung und Geschichte begreift sich die bildnerische Arbeit an Homer deshalb als eine Auseinandersetzung mit dem archaischen Erbe heutiger Konfliktbeben im globalisierten Welthabitat, als eine Auseinandersetzung mit jener "abgespiegelten Wahrheit einer uralten Gegenwart" also, die schon Goethe an Homer bewundert hat. Unter diesem Aspekt lassen sich die vorliegenden Homer-Variationen als eine Fortsetzung des Homo-Sapiens-Zyklus lesen.

     Entscheidend für den Ilias-Zyklus war der Versuch, Homers Kampfszenenrealismus und seinen Parcours aus Gewalt und Gegengewalt sukzessiv in die Abstraktion zu treiben, ohne die martialische Textur in einer Ästhetisierung des Kriegs oder in stimmungshaftem Dekor aufgehen zu lassen. Zwar kommuniziert der maltechnische Einsatz der Schablone mit Homers epischen Sprachformeln und seiner heroischen Typologie; zwar spielen die antikisierende Bildsemantik und die Farben einiger Kriegsszenen, die von rot und schwarz, auf altgriechische Vasenmalerei an; zwar brechen sich in diesem Kolorit die düsteren und schreienden Töne von Blut, Tod und Asche: Weit mehr jedoch durchdringen sich in den Ilias-Variationen Abbild und Abstraktion, um über den Formenkreis diverser malerischer Idiome mit jener Metaphorik Homers zu korrespondieren, in der sich Kampf- und Naturszenen wechselseitig spiegeln. Nicht, wie gesagt, um den Krieg als Naturgewalt zu feiern, sondern um über das Naturbild die affektiven Extreme von Zorn und Raserei, von Trauer und Schmerz auf ihren Naturgrund hin zu erden und zu dramatisieren: als eine Psychomachie der Leiden und der Leidenschaften im Zeichen heroischer Anspannung.

     Es geht in meinem Homer-Zyklus deshalb vor allem um eine Palette von Valeurs und Intensitäten, um ein Changieren zwischen greller Bilddeutlichkeit und einem schattenhaften Ausbleichen des Sujets: Mit der Absicht, durch die Transformation des Abbildhaften in eine Abstraktion der Verflüchtigung der Hoffnung Raum zu geben, die seit Urzeiten anhängige Hypothek kriegerischer Gewalt möge eines Tages vielleicht doch für immer der Vergangenheit angehören. So wie Ares und Ate, Eris und Menis, der Furor der Verwüstung, der Verblendung, des Streits und des Zorns im Ilias-Epos nicht das letzte Wort behalten, sondern einer Empathie der Milde weichen und damit den mythischen Kreis des Immergleichen zumindest punktuell unterbrechen, so sprengt der Schmerz der letzten Ilias-Gesänge den heldisch-virilen Ego-Panzer, um mit der Symmetrie der Trauer zwischen Achilleus/Patroklos und Priamos/Hektor die Unerbittlichkeit der Vergeltung aufzuheben. Erst durch diese Zäsur der Besinnung wird das heroische Kriegs- und Kriegerpathos von Stärke und Ruhm, von Thymos und Hybris auf sein angestrengt obsessives Athletentum hin durchlässig.

     Wodurch aber könnte die Gattungsgeschichte des Homo sapiens sich selbst am eindringlichsten verständlich werden als durch ein kollektives Gedächtnis des Schmerzes, dessen Eingedenken das Archiv von Mythos und Geschichte vor der Gleichgültigkeit zu retten vermag und damit den Weltlauf gleichsam nach vorn, in die Zukunft erinnert? Nicht umsonst ist Mnemosyne als Göttin der Erinnerung und der Sorge die Mutter der Musen und der Künste, die nicht vergessen wollen und nicht vergessen können und somit bewahren, was Aby Warburg einmal den "Leidschatz der Menschheit" genannt hat. Und ist es nicht auch die Erschütterung durch das Trauma des Todes, sind es nicht die Tränen und Schreie Achills, die in der Ilias entgegen jeder heldischen Contenance das blinde Verhängnis der Kriegsfurie anhalten?

     So ist der griechischen Stimme am Wendekreis von Erinnern und Vergessen Gewicht beizumessen, vor allem auch, um in der gegenwärtigen Condition humaine die chthonische Triebmacht der Furien wahrzunehmen und für jene Schnitt- und Bruchlinien sensibel zu werden, an denen sich die Spuren und Taten des Homo humanus und die des Homo barbarus überlagern: als eine offene Bilanz jenes Experimentum mundi, dessen Ausgang im Ungewissen liegt.

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