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Homo sapiens
Eine Malerei der Frühgeschichte?

"Die Paläontologie des Menschen und die Vorgeschichte (…) werden zu angewandten Wissenschaften, wenn sie zu der Feststellung gelangen, daß der ganze Aufstieg der Zivilisationen mit dem gleichen physischen und intellektuellen Menschen erfolgte, der einstmals das Mammut jagte, und daß unsere kaum fünfzig Jahre alte elektronische Kultur sich auf einen physiologischen Apparat stützt, der selbst gut 40000 Jahre alt ist. Wenn es angebracht ist, Vertrauen in die Anpassungsfähigkeit des Menschen zu setzen, (…) so besteht dennoch ein Widerspruch zwischen einer Zivilisation mit nahezu unbegrenzten Möglichkeiten und einem Zivilisator, dessen Aggressivität noch heute dieselbe ist wie zu jener Zeit, als das Töten eines Rentiers überlebenswichtig war."

         

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst

Die Frühgeschichte des Menschen grundiert stets noch den Zivilisationsprozess des Homo sapiens der Moderne, ja sie verhandelt womöglich sogar die Grenzen seiner Sozialisierbarkeit. Die Triebpotentiale aus Aggression, Dominanzgebaren und Geschlechterspannung, aus Krieg, Macht und Sexus samt ihren Abhängigkeits- und Vergeltungssymmetrien hinterlassen trotz aller rationalen Kanalisierungs- und Eindämmungsdiskurse nach wie vor weltweit Spuren. Mag auch die Ansicht allzu pessimistisch klingen, das Ereignis Homo sapiens sei womöglich nichts weiter als ein vom animalischen Triebreservoir her sich speisender Maelstrom mehr oder weniger dicht aufeinanderfolgender Gräuel, gleichsam ein düsterer Alptraum mit dem Tagesrest Kultur: Dass die Karte der Zivilisation mit reichlich Blut geschrieben ist und ihre Katakomben Massen an Opfern bergen, steht außer Zweifel.

     Zugleich wäre es an der Zeit, gegen die Chimäre einer endlos steigerbaren Individualisierung deren kollektive Muster durch Rückbindung an entwicklungs- und gattungsgeschichtliche Determinanten bewusst zu machen. Deshalb verweigern sich Schema und Schablone in meiner Variation prähistorischer Themen einerseits dem Habitus einer subjektexpressiven Kunst. Ermöglicht doch die Technik der Schablone im Rahmen des streng typisierten Figurenrepertoires präsubjektiver Bildgebung eine Szenerie der Darstellung, die der Hand des Malers Raum gibt und sie zugleich zum Verschwinden bringt. Andererseits stehen Schema und Schablone demonstrativ und kritisch für das, was die technisierte Moderne und ihre Maximen der Funktionalität an ästhetischer und kognitiver Sensibilität deformiert und somit gerade entindividualisiert haben. Dabei geht es nicht darum, das Konzept des Individuums, das schon für Nietzsche ein "Dividuum" war, seit dem expandierenden Industrialismus als massenhaft normiert zu denunzieren, sondern darum, die Last und die Illusion einer überspannten Einzigartigkeit qua Selbstverwirklichung und einer Ich-Kreation aus Selbstausbeutung und Selbstoptimierung durch Einsicht in das Erbe der frühen Gattungsgeschichte zu begreifen.

     Natürlich wäre dieser Anschauungseffekt teilweise - aber eben nur teilweise - durch fotografische Reproduktionen von Felsmalereien oder neolithischen Fresken zu erreichen, abgesehen vom Beweggrund, dass und warum sich heutige Malerei die Mühe macht, solche Motive per Hand ins Bild zu setzen. Und doch kann das frühgeschichtliche Bildrepertoire gerade mit den malerischen Mitteln der Gegenwart in seiner zeichenhaften Bildgebung und damit in seiner archaischen Präsenz intensiviert und seriell geschärft werden.

     Viel wäre erreicht, wenn der Blick auf die Variation frühgeschichtlicher Figurationen im Rahmen der Gattungsgeschichte für die eigene Individualbiografie sensibilisieren könnte: Um die Resonanzen zwischen Prähistorie und Gegenwart und das ebenso ferne wie nahe Echo zahlreicher anthropologischer Signale des Homo sapiens wahrzunehmen. Mehr noch: um zu verstehen, wie sehr die Orchestrierung der individuellen und kollektiven Emotionen des Homo sapiens sapiens, sein Affektfundus an Zuneigung und Abneigung, seine Zugehörigkeitssehnsüchte und Ausschlusspraktiken, seine Welterkundungen und Geborgenheitsfantasien, sein Ausgesetztsein und das Bewältigungsrepertoire, das auf dieses Ausgesetztsein antwortet, seine Akkumulations- und Besitzattitüden, seine Stabilisierungs- und seine Entgrenzungstechniken im frühgeschichtlichen Biotop verankert sind - bis hin zum Überbau von Mythos, Religion und Wissenschaft samt ihren kultischen, rituellen und ideellen Praktiken. All dies verspannt in die Einzel- und Kollektivdramen zwischen Geburt und Tod und einer Menschheitsgeschichte aus Repression und Emanzipation. Und schließlich kann der prähistorische Zustand des Noch-nicht - etwa die präindividuelle Schematik der Physiognomie vor einem Stadium der Gesichtwerdung mit dem Endpunkt des je eigenen Porträts - als Beginn einer Geschichte gelesen werden, die in religiös verfassten Zeiten einer Geschichte der Seele eingeschrieben bleibt, bis die Anspannung und die Dynamik einer rein innerweltlich begründeten Autonomie- und Subjektregie als Antwort auf einen weltflüchtigen Gott jenen bereits stammesgeschichtlich angelegten Welteroberungsimpuls des Homo erectus maximieren und beschleunigen, der aus den Weiten der Savanne, von Steinschleuder und Feuerholz, zur Wissenschaftstechnik und zur Rationalisierungsökonomie der Gegenwart führt, vom Homo sapiens zum Homo faber und Homo oeconomicus.

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